Dienstag, 25. Dezember 2007

Wir, die und die Moral

Das UNICEF Foto des Jahres zeigt nach Angaben der Fotografin ein Brautpaar in Afghanistan. Der Mann sei vierzig, das Mädchen 11, heisst es auf der Webseite von UNICEF. Eine Kinderheirat also.


Kinderehen gab es auch in der europäischen Geschichte, z.B. im Mittelalter. Sie wurden aus politischen und wirtschaftlichen Gründen geschlossen: Um mittels der Kinder über Geld oder Land zu verfügen oder um Bündnisse zwischen Familien zu besiegeln. Darüber hinaus meinte man, eine frühe Heirat sei ein gutes Mittel, um sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe zu verhindern. Sie dienten also auch der – christlichen - „Moral“.


Es dauerte lange, bis man Kinder als etwas anderes als „kleine Erwachsene“ wahrzunehmen anfing und begann, ihre Entwicklung als etwas vom Erwachsensein Getrenntes anzusehen. Noch bis Ende des 19. Jahrhundert wurden Kinder im Strafrecht und bei der Industriearbeit zum Teil wie Erwachsene behandelt. Und als in unserem gepriesenen Deutschland schließlich Mindeststandards zum Schutz von (Frauen und) Kindern eingeführt wurden, geschah dies nicht aus Menschenliebe. Sie wurden vielmehr geschaffen, weil die Auswirkungen der früh-kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf die Gesundheit der Bevölkerung die damals Herrschenden befürchten ließen, in absehbarer Zeit nicht mehr genug taugliche Soldaten für ihre Kriege zur Verfügung zu haben. Es ging also allein um die Verwendbarkeit von Menschen“material“ als Kanonenfutter. Mit Moral hatte das nichts zu tun1.


Warum setzen sich also heute Leute wie Leon de Winter oder die „Spürnasen“ von „PI“ auf das hohe Ross der Moral – gerade so, als hätten sie unsere Regelungen zum Schutz von Kindern unter Hinweis auf christliche oder ethische Standards erkämpft? Weil es sich so gut anhört? Oder vielleicht, weil's gerade so gut in das politische Klima passt?


Noch heute können in den USA in manchen Bundesstaaten 13jährige und jüngere Mädchen heiraten, wenn sie schwanger sind, ihre Eltern es erlauben und/oder ein Gericht zustimmt2. Die Auswirkungen so einer frühen Heirat auf Gesundheit, Bildung etc. dürften bei amerikanischen Mädchen ähnlich sein wie bei Mädchen anderer Länder. Seltsamerweise lese ich nirgendwo Proteste dagegen. Das wohlmeinende Papier der Organisation PLAN erwähnt die USA nicht einmal3 Wie will man solche Doppelstandards verständlich machen? Warum ist eine Kinderheirat in Afghanistan etwas Schlimmeres als in den USA? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass sich die USA als christliche Nation verstehen? Ist es das: Immer noch der alte Kreuzzug gegen den Islam?


Oder sehen wir hier das Wirken einer neo-kolonialen „white man's burden“*: Die überlegene christlich-“westliche“ Welt fühlt sich verpflichtet, den rückständigen Moslems Ethik zu predigen? Was ist denn auf dem Foto überhaupt zu sehen? Ich sehe da nur einen älteren Mann und ein Mädchen. Die ganze Aufregung um dieses Foto basiert auf den Vorstellungen, die „westliche“ Betrachter in diese einfache Aufnahmen hinein projizieren. Die Frage ist, ob das die einzige Deutung ist, die man diesem Foto geben kann. Ich zum Beispiel habe mich gefragt, warum diese Leute überhaupt zugelassen haben, dass man sie fotografiert. Und was sie wohl über die Interpretation dieses Fotos durch „westliche“ Betrachter denken mögen. Vielleicht bestätigt eben diese Interpretation sie in ihrer Überzeugung, „Westler“ würden nur an Sex denken?


In unserer Gesellschaft sind Kinderheiraten heutzutage nicht mehr akzeptabel. Das sollte uns aber nicht vergessen lassen, dass es einige Jahrhunderte gedauert hat, bis wir bei diesem Standpunkt angekommen waren. Und dass wir nur deswegen bei ihm angekommen sind, weil es sich für uns (und unsere Herrschenden) gelohnt hat, unsere früheren Sichtweisen und Bräuche in Bezug auf Kinder zu ändern.


Wenn wir wollen, dass andere ihre Traditionen, z.B. die der Kinderheirat, ändern, ihre Vorstellungen also unseren anpassen, dann sollten wir uns überlegen, welchen Gegen-Wert wir ihnen dafür anbieten können. Und damit meine ich nicht Wirtschafts“hilfe“ oder Waffen.



*) Die Redewendung „white man's burden“ geht auf ein Gedicht von Rudyard Kipling (dem Autor des „Dschungelbuch“s) von 1899 zurück4. Der Zeitpunkt ist wichtig: Er liegt mitten in der Hochphase des Imperialismus, die man als „Scramble for Africa“ bezeichnet5. Entsprechend wird das Gedicht von Kipling oft so interpretiert, als wäre es die Pflicht des „weißen Mannes“, über Menschen anderer Ethnien und Kulturen zu herrschen und so ihre „kulturelle Entwicklung“ voranzutreiben, bis sie, durch vollständige Übernahme der westlichen Kultur, ihren Platz unter den „Zivilisierten“ einnehmen könnten.


10 Kommentare:

Ray Gratzner hat gesagt…

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, wie oft hat man das schon gehört. Das es sich lohnt kritisch weiter zu denken zeigt dein Artikel, den ich gerne gelesen habe.
Das mit den Kinderheiraten in den USA zeigt doch, dass sie selbst im Glashaus sitzen. Mir gefallen uahc Deine Quellenangaben. Gut gemacht.

Anonym hat gesagt…

sehr gut!

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

Danke. Da lohnt sich die Mühe doch.

Anonym hat gesagt…

Das ist alles großer, von den Massenmedien verbreitete Propaganda!
Hier seht ihr, was es mit diesem Bild wirklich auf sich hat:
http://www.klabusterbeere.net/archiv/2007/12/18/glucklich-vereint/

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

@uwe

Danke für den Hinweis. Die Website, auf die Du verweist, ist sicher Wasser auf die Mühlen derjenigen, die behaupten, "Westler" dächten nur an Sex. Oder seien rassistisch.

Anonym hat gesagt…

Oh Mann... Muss eigentlich hinter allem tieferer Sinn stecken? Weißt Du eigentlich, warum ich Menschen wie Dich verachte? Weil sie sich hinter einem Schild aus Sozialsein, Herzensgüte und Offenheit verbergen. Eine Larve ist das, nichts weiter. Ihr verbergt damit doch nur, dass Ihr genauso drauf seid, wie Du und ich. Und kommt mir bloß nicht mit diesem "Wenn einer zwei Teile von irgendwas hat und ein anderer nichts, dann kann er ja dem anderen einen Teil abbgeben. Damit hat jeder ein Teil, worüber sich beide freuen könnnen und die Welt ist wieder ein Stück gerechter." Ist sie nämlich nicht: Der eine hat sich beide Teile verdient, wohingegen der andere nur auf solche Deppen aus ist, die sich von ihm belabern lassen. Energetischer Vampirismus ist kein Weg zum besseren Menschen! Ih veranstaltet hier nur Pseudosoziales Gewinsel- Das ist genau das, was irgendwann einmal bbei jedem von Euch zum Vorschein kommt. Wahrscheinlich in Anjuna Bay zu lange auf Trip in der Sonne gewesen. In Wirklichkeit geht auch Ihr Gutmenschen auf Klo und verrichtet dort Euer Geschäft, Und weißt Du was? Ich wette, Deine Exkremente riechen genauso wie die eines jeden anderen Menschen auch. An Dir und Deinesgleichen ist nichts Überirdisches! Es ist ja nicht einmal etwas dran, was Dich fortgeschrittener als andere macht! Dieses "Oh mein Gott! Wie rassistisch/sexistisch/bösartig!" ist doch nur ein Popanz der Pseudo-Aufrichtigkeit! Lasst einfach mal diesen Blödsinn! Stellt Euch einfach mal mit anderen auf eine Augenhöhe! Das könnt Ihr allerdings nicht, weil Ihr noch nicht einmal mehr Gutmenschen seid. Ihr haltet Euch wahrscheinlich mittlerweile schon für Bessermenschen. Und einfach einem Fundamentalisten nicht provozieren zu wollen, damit er ja nicht mehr ausflippt, ist so, als würde man einem schwer bewaffneten Feind mit offenen Armen entgegen laufen, um ihn zum Gruppenkuscheln zu überreden. Das bring bloß gar nichts! Diese Menschen haben ihre Intoleranz genauso kultiviert, wie Ihr Eure Dummheit!

Erbärmliche Heuchler seid Ihr!

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

Aber @hervorragend,

ganz offensichtlich habe ich doch (mindestens) einen Fundamentalisten provoziert. Und: Nein, ich werde mich damit nicht auf Augenhöhe begeben.

Ebenso wenig wirst Du mein Plazet bekommen. Wenn Du es vorziehst, Jeden, der die Dinge nicht so sieht wie Du, jeden, der nicht auf Deiner "Augenhöhe" ist, für einen Pseudo, Depp, Heuchler zu halten; wenn Du für Offenheit und eigenständiges Denken nur Verachtung übrig hast: Schade. Aber das ist Dein Problem und darf es auch bleiben.

Ich werde mir auch weiterhin meine eigene Meinung bilden, anstatt hinter der Tagespropaganda her zu hecheln.

Anonym hat gesagt…

Man sieht, dass Du nicht verstanden hast. Wundert mich aber auch nicht. Das passiert wohl, wenn man die Scheuklappen des Gutmenschentums aufsetzt und nur auf seine eigene Weltsicht fixiert ist.

Aber dass einem dabei glatt das sinnentnehmende Lesen abhanden kommt habe ich nicht gewusst. Mir graut.

Anonym hat gesagt…

Ach, und die Propaganda, die DU hier verbreitest, ist natürlich was anderes?
Deshalb wurde jetzt auch schnell mal die Zensur eingeschaltet.

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

@hervorragend

Ich habe durchaus verstanden, dass Du mir Dein Herz ausgeschüttet hast. Ich verstehe, dass Du Dich noch immer nicht verstanden fühlst.

Aber verstehe Du bitte: Dies ist keine Therapie-Site, sondern mein Blog. Ich bespreche hier Themen, die mich interessieren, unter Gesichtspunkten, die ich für wichtig halte. Dass dies nicht nicht Jedem gefällt, lässt sich, wenn man seine eigene Meinung vertritt, kaum vermeiden. Sofern sie begründet werden, setze ich mich gern auch mit anderen Meinungen auseinander. Aber Emotionsausbrüche kann ich nur zur Kenntnis nehmen. Sie zu "verstehen" ist nicht mein Job.

@uwe

Wenn Du möchtest, dass ich auf Deinen Post eingehe, begründe bitte Deine Behauptung.