Donnerstag, 20. Dezember 2007

Zahlreiche Muslime gewaltbereit?

Jetzt wissen wir's endlich: 40% unserer hiesigen Muslime sind "fundamental orientiert [...] mit klaren religiösen Orientierungsmustern und Moralvorstellungen. "

So jedenfalls berichtet es Tagesschau.de unter Berufung auf die „Frankfurter Rundschau“, und FR-online.de unter Berufung auf eine vom Bundesinnenministerium vorgelegte Studie. Dieser Studie zufolge wird außerdem eine „kleine Gruppe von sechs Prozent als "gewaltaffin" eingestuft. Immerhin 14 Prozent der“ in der Studie „Befragten, von denen knapp 40 Prozent einen deutschen Pass hatten, standen mit der Rechtsstaatlichkeit auf Kriegsfuß und zeigte problematische Distanz zur Demokratie. Glaubt man der Erhebung, dann identifizieren sich zwölf Prozent der Muslime in Deutschland mit einer stark religiös-moralischen Kritik an westlichen Gesellschaften, kombiniert mit der Befürwortung von Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe.“ Zudem sei „Immerhin ein Viertel der angehenden muslimischen Studenten [...] "zumindest latent radikalisierungsgefährdet".

(Quellen: http://www.tagesschau.de/inland/gewaltbereitschaft2.html; http://www.fr-online.de/top_news/?sid=d702fd3080a0e384c54bc3c64ddf1e52&em_cnt=1261116)


So weit das, was FR-online.de von der immerhin 515 Seiten umfassenden Studie des Instituts für Kriminalwissenschaften, Abteilung Kriminologie, der Universität Hamburg übrig lässt. Warum ausgerechnet Kriminologen, müsste man den damaligen Innenminister Schily fragen, der die Studie 2004 in Auftrag gegeben hat. Jedenfalls werden in ihr mit Hilfe von Befragungen und qualitativen Interviews unter anderem Diskriminierungs-Erfahrungen, Religiosität, "Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz" sowie Einstellungen zu politisch-religiös motivierter Gewalt erhoben.


Befragt wurden dafür

  • knapp 1.000 muslimische Bürger; per Telefoninterview,
  • knapp 500 Schüler der 9. und 10. Schulstufe in Augsburg, Berlin und Köln; per Fragebogen im Klassenverband,
  • 195 Studenten in Augsburg, Berlin, Hamburg und Köln; per Fragebogen, der vom Studentensekretariat der jeweiligen Uni verschickt wurde,
  • 60 Männer aus dem Umfeld muslimischer Organisationen und Vereine; per qualitativem Interview.

Dabei ist zu beachten:

  • Die Befragung der Schüler fand im Klassenverband statt, Muslime und Nicht-Muslime zusammen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass in einem Klassenverband sozialer Druck ausgeübt wird. Darüber hinaus haben die Schüler vermutlich Überlegungen angestellt, was der Untersucher von ihnen erwartet. Einflüsse der Untersuchungssituation und des Untersuchers auf die Befragungsergebnisse (Stichwort Soziale Erwünschtheit*) wurden jedoch bei der Auswertung nicht berücksichtigt.
  • Bei den Studenten betrug die Rücklaufquote nur 27,7%, d.h. von 100 verschickten Fragebögen kamen im Schnitt nur knapp 28 wieder. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die Ergebnisse betrachtet. Über das, was die anderen immerhin 72,3% zu sagen gehabt hätten, kann man nur spekulieren.
  • Analog lag bei den telefonisch befragten Bürger die Quote derjenigen, mit denen ein vollständiges Interview geführt werden konnte, bei 34,8%.

Und nun zurück zum Anfang.


Ich finde den Ausdruck „fundamental orientiert“ ziemlich unglücklich. „Fundamental“ ist nur ein Hilfsverb; allein bedeutet es nichts und es enthält auch keine Wertung. Was ist also mit fundamental gemeint? Fundamental schön? Fundamental hungrig? Fundamental gelb?


Die Autoren der Studie meinen damit natürlich etwas Bestimmtes, nämlich einen statistischen Faktor, den sie aus den Antworten auf vier ihrer Fragen errechnet haben. Die Leser FR-online.de erfahren darüber allerdings nichts. Sie lesen nur „fundamental orientiert“ - und interpretieren das allein aufgrund der Ähnlichkeit der Wörter womöglich als „fundamentalistisch“.


Wie steht es nun mit den Zahlen?


Die in der auf FR-online.de erwähnten 40% „fundamental Orientierter“ finden sich bei den Bürgern und Schülern, nicht aber z.B. bei den Studenten. Das mag ein Bildungseffekt sein, kann aber auch mit der Befragungssituation zusammenhängen. Die Schüler wurden in ihrer Klasse befragt, vielleicht während sie neben ihren Freunden saßen. Ebenso befanden sich in der Nähe der telefonisch befragten Bürger womöglich Familienangehörige. In einer Studie wie dieser sollte man derartige Einflussfaktoren einkalkulieren; ebenso wie den Einfluss, den die Befragung selbst auf die Antworten hat.

Immerhin wird hier nach Einstellungen gefragt. Einstellungen sind kein sehr stabiler Untersuchungsgegenstand. Wenn man dieselbe Person mehrmals nach ihren Einstellungen fragt, womöglich noch durch verschiedene Untersucher, bekommt man wahrscheinlich verschiedene Antworten. Hinzu kommt, dass Einstellungen nicht unbedingt handlungsrelevant sind. Soll heißen: Man kann eine Einstellung haben, auch darüber reden, vielleicht sogar daran glauben. Ob man in einer bestimmten Situation entsprechend handelt, ist damit noch lange nicht gesagt.

Was haben wir also hier? Bei ca. 40% der befragten muslimischen Bürger und Schüler der 9. und 10. Schulstufe eine „fundamental orientierte“ Einstellung. Das kann man zur Kenntnis nehmen. Darüber kann man auch nachdenken. Wie das einzuorden ist, wird man aber erst herausfinden, wenn man ähnliche Untersuchungen auch an der christlichen Mehrheit durchführt. Die „fundamentale Orientierung“ unserer muslimischen Minderheit existiert schließlich nicht im leeren Raum. Kann man tatsächlich ausschließen, dass ihr ähnlich „fundamentale“ christliche Einstellungen gegenüber stehen?


Die übrigen Zahlen beziehen sich hauptsächliche auf die Teilgruppe der telefonisch befragten Bürger. Unter ihnen

  • ist bei 6% laut Studie ein Potenzial, d.h. eine Möglichkeit zu politisch-religiös motivierten Formen von Gewalt zu erkennen.
  • Zeigte sich bei 12% eine Einstellung der religiös motivierten Aufwertung ihrer eigenen Gruppe und Abwertung der „Anderen“, kombiniert mit einer Befürwortung von Körper- und Todesstrafen entsprechend dem islamischen Recht; letzteres wurde in der Studie als Ausdruck von „Demokratiedistanz“ bewertet.
  • Zeigten 14% „problematische Einstellungsmuster“ in der Form, dass ihre Einstellung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eher distanziert war bzw. bei ihnen eine hohe Akzeptanz von politisch-religiös motivierter Gewalt“ festgestellt wurde.

Diese Zahlen addieren sich nicht, sondern überschneiden sich; die 12% und 14% sind jeweils zusammenfassende Zahlen, es geht aber zum Teil Verschiedenes in sie ein. Erfragt werden darüber hinaus nur Einstellungen; ob diese seitens der Befragten jemals zu irgend welchen Handlungen führen, ist anhand der Ergebnisse dieser Studie allein nicht abzuschätzen.


Unter den Studenten wiederum sind 24,1%, die einer statistisch berechneten Klasse namens religiös Rigide“ zugeordnet wurden. Diese sehen die Untersucher als „in gewissem Maße islamismusnahe Gruppe, die [...] sich durchaus als stärker radikalisierungsgefährdet erweisen könnte“ als religiös weniger festgelegte Bevölkerungsgruppen. Aber auch das sind nur Einstellungen, kombiniert mit einer Einschätzung der Untersucher - und zwar in Bezug auf eine kleine Gruppe von 47 Personen.


(Quelle der Zahlen und Zitate: Studie)


Die auf gewissen Sites beschworene Gefahr der "Islamisierung" sehe ich vorläufig weder von ihnen noch von den anderen "Risikogruppen" auf uns zurollen. Was mich irritiert, ist die tendenziöse Berichterstattung. Da dichtet man auf FR-online den Untersuchern eine Besorgnis an. Und Tagesschau.de konstruiert aus den anscheinend nur aus zweiter Hand übernommenen Zahlen gleich, dass "zahlreiche Muslime" gewaltbereit wären.


Man kann's auch übertreiben, oder?



*) Soziale Erwünschtheit ist die Tendenz, das eigene Denken und Handeln an sozialen Normen auszurichten. Das kann sich z.B. dahin gehend äußern, dass eine Person bei einer Befragung das erzählt, wovon sie meint, dass der Untersucher es hören will. Oder eine Person beantwortet die Feststellungen in einem Fragebogen über Einstellungen nicht so, wie sie auf sie zutreffen, sondern so, wie es in ihrer sozialen Gruppe „richtig“ ist.

Die Leute wollen es nur richtig machen. Aber für einen Wissenschaftler ist das ein Problem, dass er bei Befragungen einkalkulieren sollte.


4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

WÜrdest Du eigentlich auch bei Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund noch so waaaaahnsinnig viel Verständnis entgegen bringen?
Ehrlich, mich wundert es nicht, dass der Einzug der NSDAP seinerzeit möglich war, in den Reichstag einzuziehen. Dammals müssen die Leute wohl so weichgespült wie Du gewesen sein.

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

@hervorragend,

es ist Dir anscheinend entgangen, aber hier geht es nicht um Straftaten, sondern um eine Studie, in der Meinungen abgefragt wurden. Zu diesen Meinungen haben sich wiederum die Untersucher (statistisch) Meinungen gebildet. Und über die Meinungen der Untersucher haben dann Journalisten Meinungen veröffentlicht. Daran mag fachlich nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein. Aber es ist meines Wissens völlig legal.

Danke für Deine Aufmerksamkeit.

Anonym hat gesagt…

Achso, dann wolltest Du das also ohne eine eigene Wertung veröffentlichen?

Das ist Dir aber wahrlich misslungen.

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

@hervorragend,

Danke für das Beispiel einer fundamentalistischen "Argumentations"form:

Schritt 1: Der Gegenseite wird etwas unterstellt;
Schritt 2: Die eigene Behauptung wird so behandelt, als käme sie von der Gegenseite; und in
Schritt 3: Wird schließlich der Behauptung widersprochen.

Das hast Du formal wirklich gut dargestellt.

Was von dem Inhalt Deines Kommentars zu halten ist, beantwortet sich von selbst, wenn man meinen Post liest.