Montag, 11. April 2011

Adipositas ist keine Ess-Störung


 Am Wochenende war ich bei einer Fortbildung zum Thema Ess-Störungen. "Toll", dachte ich mir am Freitag, "da wirst Du eine Menge interessanter Dinge lernen. Das wird Dir in Deinem Berufsalltag sicher helfen." Ich stellte mir so etwas vor wie einen kurzen Vortrag zu den verschiedenen Ess-Störungsbildern, gefolgt von Übungsblöcken, in denen wir Behandlungstechniken erproben würden. Ich machte mich frohen Mutes zum Schulungsort auf, bereit, die Hälfte meines Wochenendes zu opfern...

Und wurde mit einer siebenstündigen Präsentation zum Thema Magersucht "beglückt". Praxisrelevanz? Nun ja, es gab ein paar Sätze zur Therapie von Bulimie, die, wie die Vortragende versicherte, auch auf die Behandlung schwer Übergewichtiger anwendbar seien. Vorausgesetzt, sie hätten eine Ess-Störung. 

"Was soll das heißen?" fragte ich. "Ist Adipositas denn keine Ess-Störung?" 
"Nein," versicherte sie mir. "Bei Adipositas gibt es einen so starken genetischen Faktor und sie wird vor allem durch übermäßige Nahrungszufuhr verursacht. Wenn die Betroffenen nicht gerade unter Binge Eating leiden...". 
Auf deutsch: Stark Übergewichtige sind stark übergewichtig, weil auch ihre Blutsverwandten stark übergewichtig sind. Außerdem essen sie zu viel. So lange sie das gleichmäßig machen und nicht anfallsweise, sind sie ein Fall für den Doktor. Der verschreibt ihnen Lipidsenker, eine Magenverkleinerung oder einen Besuch beim Schönheitschirurgen. Wenn sie telegen sind, können sie außerdem einen Auftritt in einer Abnehm-Reality Show gewinnen. Aber eine Psychotherapie ist nicht drin.

Cool.
Wenn einige wenige Mittelstandskinder sich zu Tode hungern wollen, kriegen sie vom Steuerzahler zusätzlich zu einer umfassenden medizinischen Behandlung auch einen Psychotherapeuten spendiert. Wenn viele weniger Privilegierte von Stress, Billigfraß und weil sie nach einem harten Arbeitstag kaum mehr die Energie (und oft auch nicht die Mittel) haben, sich noch etwas anderes Gutes zu tun, als zu essen, Übergewicht bekommen, setzt es vor allem Medikamente und Moralpredigten. Der Psycho darf's dann richten, wenn Arbeitsunfähigkeit droht...

2 Kommentare:

Ray Gratzner hat gesagt…

Liebe Große Vorsitzende,

Recht haben genügt nicht man muss auch Recht bekommen und das können sich manche Leute kaufen.
Krank sein genügt nicht, man muss auch eine vernünftige Behandlung bekommen und das können sich nur manche Leute kaufen...

Liebe Grüße Rainer

Die Große Vorsitzende hat gesagt…

Unsere Politiker träumen offensichtlich nicht nur von amerikanischen Verhältnissen; sie sorgen auch dafür. Geiz ist geil! Auch wenn die langfristigen Kosten so natürlich höher sind. Aber bis dahin ist die Opposition am Ruder; die dürfen sich dann damit herumschlagen...

LG