Ich lese gerade die aktuelle GEO Epoche - und bin
ein bisschen enttäuscht, dass die Wissenschaftsjournalisten, die in
den ersten Ausgaben dieser Zeitschriftenreihe noch die Mehrzahl der
Autoren gestellt haben – und in meinen Augen für die Qualität des
Geschriebenen gebürgt haben -, zunehmend durch Reporter
ersetzt zu werden scheinen, die nur noch Schulstoff auf Infotainment
bürsten. Vielleicht liegt es aber auch am Thema: "Rom" hat mich
schon in der Schule sterblich gelangweilt und der Artikel über den
Untergang des römischen Reichs, den ich gerade lese, erinnert mich an die Gründe dafür.
Wer oder was war denn überhaupt dieses von Rom
beherrschte "Weltreich"? Die meisten seiner Bewohner waren
vermutlich Bauern, Viehzüchter oder Fischer. Was sie über die Welt
wussten, beschränkte sich auf das, was sie sahen, und was sie von
der Welt sehen konnten, endete am Horizont. Nachrichten von jenseits
dieser Linie mochten sie durch reisende Händler auf Märkten
erreichen, aber was diese erzählten, dürfte für sie genau so
märchenhaft gewesen sein wie die Sagen und Legenden, die sie sich in langen
Winternächten am Herdfeuer erzählten. Wer in einer fernen
Stadt auf einer stiefelförmigen Halbinsel die Herrschaft inne hatte
– Senat oder Princeps, Römer oder Nicht-Römer, Kaiser oder Papst
-, änderte nichts an ihrem Alltag. Ebenso wenig hatte es einen
Einfluss auf ihr Leben, ob einer dieser fernen Herrscher ihre Wiesen,
Felder und Flüsse als Teil seines Machtbereichs reklamierte oder
nicht. So lange ihnen nicht gerade eine römische Armee an der
Haustür vorbei trampelte, wussten und merkten sie nichts davon. Wer
oder was war dann aber das römische Reich, das antike
Autoren, Wissenschaftler und Inofainment-Texter in so vielen Worten
beschworen haben?
Aus meiner Sicht vor allem das Werk einer
Propagandamaschinerie. Nichts wurde in Rom höher gehalten als
militärische Siege und Eroberungen. Nur, wer dergleichen vorzuweisen
hatte, konnte damit rechnen, sich in den Konkurrenzkämpfen der
herrschenden Cliquen der Stadt durchzusetzen und einen der begehrten Sitze im
Senat zu ergattern, womöglich Konsul oder gar Kaiser zu werden. Was
aber militärischer Erfolg war, bestimmten zwei Institutionen: Die
Staatskasse und die Jubelschreiberlinge.
In der Staatskasse landete, was eine römische Armee auf
ihren Kriegszügen zusammen geraubt hatte. Je mehr Beute seine
Soldaten nach Rom zurück brachten, desto höher das Ansehen des
Heerführers. Ob die Gebiete, in denen der Raubzug stattgefunden
hatte, auch tatsächlich militärisch kontrolliert wurden, spielte
dafür oft eine zweitrangige Rolle. Ägypten zum Beispiel wurde zwar
als Teil der römischen Einflusssphäre betrachtet, das Land aber
weiterhin von den lokalen Herrschern kontrolliert und verwaltet.
Ähnlich verhielt es sich mit anderen "Eroberungen" römischer Armeen.
Selbst da, wo römische Soldaten stationiert waren, hätte ihre Zahl
in der Regel wohl nicht ausgereicht, um sich einem entschiedenen
Widerstand der lokalen Bevölkerung gegenüber durchsetzen zu können.
Aber der Widerstand fand gar nicht statt – weil sich für die
meisten Menschen in den von Rom beanspruchten Gebieten nichts änderte
und der Einfluss "römischer Kultur" auf die unmittelbare
Umgebung von Kasernen und Verwaltungssitzen römischer Statthalter
beschränkt blieb.
Das "römische Reich" fand vor allen Dingen Rom
selbst statt. Hier kommen die Jubelschreiberlinge ins Spiel, die als
Chronisten und Propagandisten von Heerführer-Politikern die Welt so
beschrieben, wie es ihren Auftraggebern nützte. In Einzelfällen
übernahmen die Heerführer-Politiker – zum Beispiel Julius Caesar
– das sogar selbst. Wobei das Geschriebene ausdrücklich nicht
dazu gedacht war, von den Menschen in den Gegenden gelesen zu
werden, über die geschrieben wurde. Wenn Caesar über seine
militärischen Erfolge und Eroberungen in Gallien schrieb, zielte er
damit auf eine römische Leserschaft ab und der Zweck der Übung war,
sich damit in Rom politische Vorteile zu verschaffen. Was davon "wahr" war, dürfte in mancherlei Hinsicht der Berichterstattung
über US-Kriege auf CNN entsprechen, wo ein Land als "erobert"
bezeichnet wird, wenn die US-Armee den Flughafen der Hauptstadt
besetzt hat.
So betrachtet, war das römische Reich in erster Linie
eine politische und propagandistische Konstruktion in den
Konkurrenzkämpfen römischer Politiker bzw. Heerführer.
Zwar wurde das Ganze – natürlich – auch von Armeen und
Kriegszügen unterstützt. Wie begrenzt ihr Einfluss jedoch war,
zeigte sich, als die Grenzen des Reiches ernsthaft und in größerem
Ausmaß in Frage gestellt wurden: Gebiete
wurden aufgegeben (z.B. in Britannien oder jenseits des Rheins),
Raubzüge und Einwanderungswellen mussten hingenommen werden, das als
Reichsgebiet beanspruchte Gebiet schrumpfte. Bis "Rom"
schließlich auch in der Selbstwahrnehmung seiner Herrscher aufhörte,
zu existieren – und damit die Propagandamaschinerie, die das Reich
bis dahin wie ein Mantra beschworen hatten. "Rom" ging unter,
weil niemand mehr darüber schrieb.
Für die Menschen in den ehemals von Rom
beanspruchten Gebieten dürfte damit die Welt nicht untergegangen
sein. Der Abzug römischer Truppen hat vermutlich hauptsächlich die
Anwohner von Kasernen und städtischen Verwaltungszentren
interessiert – eine überschaubare Zahl von Personen, verglichen
mit denjenigen, die sofern sie sich nicht den
Völker-Wanderungsbewegungen der Zeit anschlossen, wahrscheinlich ihr
Leben als Bauern, Viehzüchter und Fischer weiter geführt haben. Der
noch immer von der Forschung als "dunkle Jahrhunderte"
bezeichnete Zeitraum nach dem "Untergang des römischen Imperiums"
ist nur dunkel wegen seines relativen Mangels an Schriftquellen.
"Rom" aber, das ist bis heute eine Konstruktion
einer Marketing-, Unterhaltungs- und Infotainmentindustrie, die eine
brutale, durch Raub und Mord reich gewordene Ausbeuter- und
Sklavenhalter-Gesellschaft zur Hochkultur stilisiert. Sollten wir uns deswegen nicht ein paar Fragen stellen?